Mises, Zinsen und Marktwirtschaft

Der Zins ist in einer Marktwirtschaft viel mehr als ein technischer Hebel der Geldpolitik — er ist ein grundlegendes Signal, das in sich die Präferenzen von Individuen hinsichtlich Gegenwart versus Zukunft transportiert und das Koordinationsinstrument zwischen Sparen und Investieren darstellt. Wenn wir über die Bedeutung des Zinses sprechen, müssen wir deshalb nicht nur seine wirtschaftlichen Effekte bedenken (etwa auf Wachstum, Verschuldung, Kapitalstruktur), sondern auch verstehen, wie er aus einer rein theoretischen, wert- und geldbezogenen Perspektive erscheint. In dieser Hinsicht bietet die Sichtweise von Ludwig von Mises — insbesondere eingebettet in die österreichische Geld- und Kapitaltheorie — eine tiefgehende und zugleich kritische Linse.
Die „üblichen“ Wirkungen niedriger Zinsen
Wie bereits in der vorherigen Darstellung angedeutet, kann ein niedriger Zins kurzfristig stimulierend wirken: Er senkt die Kosten der Kapitalaufnahme, animiert Unternehmen zu Investitionen, erleichtert privaten Haushalten größere Anschaffungen und unterstützt durch günstige Finanzierung auch staatliche Projekte. In vielen makroökonomischen Modellen fungiert der Zinssatz als Kanalschnittstelle, über die expansive Geldpolitik ihre Wirkung entfaltet. Doch in einer Analyse von Frank Shostak wird deutlich, dass diese Effekte kaum ohne Bedingungen gelten. Dort werden Aspekte wie Kapitalfehlallokation, wachsende Verschuldung, Finanzialisierung und die Gefährdung der geldpolitischen Flexibilität hervorgehoben.
Shostak betont, dass eine künstliche Absenkung des Zinses — also nicht durch „echtes“ Sparen, sondern durch Geld- und Kreditexpansion — verzerrende Signale sendet. Unternehmen werden verleitet, in längerfristige, kapitalintensive Projekte zu investieren, obwohl die Konsumpräferenzen der Bevölkerung vielleicht anders gelagert sind. Dies entspricht dem klassischen Argument, dass das Markt-Zinsniveau nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern immer im Verhältnis zu tatsächlichen Ressourcen, Sparverhalten und Produktionsstrukturen stehen muss.
Mises’ Sicht auf Zins, Geld und Kapital
Um Mises’ Sichtweise in diesen Rahmen hineinzuziehen, lohnt sich zunächst eine kurze Darstellung seiner zentralen geldtheoretischen Gedanken und seiner besonderen Herleitung des Zinsphänomens.
Originary Interest und Zeitpräferenz
Für Mises ist der Zins nicht zuerst eine Marktgröße, die sich durch Angebot und Nachfrage im Kapitalmarkt ergibt, sondern ein Ausdruck der Zeitpräferenz der Individuen: Menschen bewerten gegenwärtige Güter höher als identische Güter in der Zukunft — nicht aus Gier, sondern, weil das Leben in der Gegenwart zuerst gesichert sein muss. Der Zins — oder genauer: der originary interest — ist also kein bloßer „Lohn“ für Verzicht, sondern ein notwendiger Bestandteil der wertmäßigen Betrachtung von Gegenwart und Zukunft. (Mises Institute)
Mises schreibt, dass Sparer nicht „deshalb“ sparen, weil Zinsen existieren, sondern dass der Zins in jedem Akt menschlicher Bewertung unausweichlich ist. (Mises Institute) Der Marktfinanzierungszins (also das, was Kreditnehmer zahlen) ist lediglich eine Anpassung an diese zugrundeliegende Zeitpräferenz. Der Kreditmarkt „justiert“ sich zu diesem tieferen Zinsniveau (sofern Freiheit besteht). (Mises Institute)
Geld, Kreditexpansion und die Zinsverzerrung
In Mises’ Geldtheorie spielt auch die Rolle des Geldes selbst eine fundamentale Rolle. In The Theory of Money and Credit legt er dar, wie Geld seinen Wert erhält (unter anderem über das Regressionsprinzip) und wie monetäre Expansion die reale Wirtschaftsstruktur beeinflusst. (Mises Institute)
Wird nun durch Bankkreditffungsprozesse und Zentralbankmaßnahmen der marktorientierte Zinssatz künstlich gedrückt, dann erzeugt dies laut Mises dezentrale Fehlallokationen: Investitionen, die bei einem „natürlicheren“ Zinsniveau unrentabel wären, erscheinen attraktiv. Damit werden Ressourcen von konsumorientierten Zweigen zur kapitalintensiveren Produktion umgelenkt, obwohl die Ersparnisbasis (real verfügbarer Konsumverzicht) nicht in diesem Umfang existiert. Dies führt zu einer Diskrepanz zwischen realer Sparfähigkeit und nominaler Kapitalverfügbarkeit. Die Folge sind Verzerrungen in der Produktionsstruktur. (Dieses Argument gehört zur Kernmechanik der österreichischen Konjunkturtheorie.)
Wenn die Kreditexpansion überhandnimmt und der „Geldzins“ dauerhaft unter dem natürlichen Zins liegt, spricht man in der Tradition der Österreichischen Schule von einem Boom, der sich in Malinvestitionen niederschlägt. Später kommt es zur Korrektur (Bust), weil die realen Präferenzen und Ressourcen wieder durchschlagen und viele zuvor profitable Projekte sich als überdimensioniert herausstellen.
Mises vs. Neutralität des Geldes
Ein weiterer Aspekt, der Mises’ Denken prägt, ist die Ablehnung einer „neutralen“ Rolle des Geldes: Änderungen der Geldmenge wirken nicht nur nominal, sondern beeinträchtigen die Verteilung, Struktur und Produktionspläne. Anders als manche orthodoxe Theorien, die im langen Lauf eine Rückkehr zum „neutralen Geld“ postulieren, sieht Mises die Auswirkungen monetärer Expansion als strukturell und dynamisch störend.
Seine Verbindung von Wertlehre und Geldtheorie erlaubt es, die Wirkungen monetärer Eingriffe auf gesamte Wirtschaftsprozesse zu analysieren — von individuellen Bewertungen über Investitionsentscheidungen bis zur gesamtwirtschaftlichen Konjunkturentwicklung.
Synthese: Erklärende Kräfte zwischen Theorie und Praxis
Wenn wir nun Shostaks (kritische) Sicht auf niedrige Zinsen und Mises’ tiefere, werttheoretische Perspektive zusammenbringen, entsteht ein integriertes Bild:
- Der Zins fungiert als essenzielles Signal für das Verhältnis von Gegenwart zu Zukunft; jede künstliche Verzerrung dieses Signals kann zu Fehlsteuerungen führen.
- Niedrige Zinsen mögen kurzfristig Wachstum stimulieren, doch nur, wenn echte Sparneigung besteht. Wenn sie allein durch Kreditexpansion erzeugt werden, entstehen Diskrepanzen zwischen finanziellen und realen Größen.
- Eine expansive Geldpolitik kann nur scheinbar Wohlstand erzeugen; langfristig zwingt sie Anpassungen durch Korrekturen, also Krisen.
- Aus Mises’ Sicht liegt eine der Wurzeln der konjunkturellen Instabilität in der falschen Handhabung des Zinses durch Zentralbanken und Kreditinstitute — eine Sicht, die die österreichische Konjunkturtheorie (Austrian Business Cycle Theory) teilt.
- Daher wäre eine idealtypische Politik nicht die dauerhafte Niedrigzinspolitik, sondern eine möglichst freie Preisbildung des Zinses — sodass er seine Signalfunktion bewahrt und eine tragfähige Kapitalallokation ermöglicht.
Schlussgedanken
Der Zins ist in dieser Sicht nicht einfach ein Instrument, das man beliebig manipulieren kann, sondern ein vielschichtiges Koordinationssignal, das in die tiefe Struktur einer Wirtschaft hineinreicht — in die gemessenen Wertentscheidungen, in die Abstimmung von Gegenwartskonsum und Zukunftsproduktion, ja in die gestaffelte Produktionsstruktur selbst. Wenn man niedrigem Zins als Wachstumsmotor vertraut, ohne die geldtheoretischen Grundlagen und Risiken zu beachten, läuft man Gefahr, eine Illusion zu propagieren – eine Illusion, die erst dann ihre Schatten wirft, wenn die unausweichliche Korrektur einsetzt.