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Zwischen Engagement und Entlassung - Der "Fall" Kevin S.

24. Juni 2025 // geschrieben von Manfred

Die Geschichte von Kevin S. ist ein Lehrstück darüber, wie gefährlich der gesellschaftliche Umgang mit politischer Uneindeutigkeit geworden ist – und wie schnell das Fundament des demokratischen Diskurses ins Wanken geraten kann, wenn Kontaktschuld über Sachlichkeit triumphiert. Es ist die Geschichte eines Mannes, der sich aus freien Stücken heraus für politische Bildung, offenen Diskurs und demokratische Teilhabe interessierte – und dafür seinen Arbeitsplatz verlor.

Kevin S. begann seinen Weg keineswegs als politischer Aktivist. Vielmehr war es ein persönliches Bedürfnis nach Orientierung, das ihn im Sommer zu verschiedenen politischen Veranstaltungen im Raum Marburg führte. Ihn trieb ein Wunsch an, den viele als selbstverständlich erachten: sich aus allgemeinen Quellen frei informieren zu können. Er hörte Professoren, engagierte sich im Dialog, besuchte sowohl linke als auch konservative Veranstaltungen – stets mit dem Ziel, nicht zu urteilen, sondern zu verstehen.

Doch genau dieses Bemühen um Neutralität und Offenheit wurde ihm zum Verhängnis. Nachdem er eine Veranstaltung mit dem umstrittenen rechten Aktivisten Martin Sellner besucht hatte, wurde er von linken Gruppen heimlich fotografiert. Die Fotos wurden online veröffentlicht, anonym, aber identifizierbar. Was in einer pluralistischen Gesellschaft ein normales Ausdrucksverhalten im Sinne politischer Informationsfreiheit sein sollte – der Besuch einer öffentlichen Veranstaltung – wurde als Skandal inszeniert.

Die eigentliche Tragik beginnt jedoch erst mit dem Verhalten seines beruflichen Umfelds. Anstatt das Gespräch mit ihm zu suchen, wurde S. zur Zielscheibe einer abrupten und unangekündigten Maßnahme: Die fristlose Kündigung – ohne Vorwarnung, ohne Abmahnung. Als Betriebsrat selbst überrascht und überrumpelt, erfuhr er davon nicht durch seinen Arbeitgeber, sondern live in einer Sitzung, ohne je die Chance auf vorherige Stellungnahme.

Begründet wurde die Kündigung mit einem angeblichen „Betriebsaufruhr“ aufgrund seiner Teilnahme an der besagten Veranstaltung. Aus der simplen Teilnahme wurde eine politische Gesinnung konstruiert, die ihm nicht nur unterstellt, sondern öffentlich gegen ihn verwendet wurde. Ihm wurde ein Näheverhältnis zu rechten Gruppen nachgesagt – ohne Beleg, ohne Prüfung, allein auf Grundlage eines Veranstaltungsbesuchs.

Dass dies juristisch kaum haltbar ist, zeigen Kevins Recherchen und seine rechtliche Verteidigung: Das Grundgesetz schützt ausdrücklich vor Diskriminierung aufgrund politischer Betätigung (Art. 3 GG). Das Betriebsverfassungsgesetz (§ 75 BetrVG) verpflichtet Arbeitgeber und Betriebsrat zur Neutralität und zum Schutz aller Beschäftigten – auch und gerade in politisch aufgeheizten Situationen.

Statt dieses Mandat wahrzunehmen, agierten viele Beteiligte aus Angst vor Imageschaden. In der Begründung seiner Kündigung findet sich nicht das Arbeitsrecht, sondern der gesellschaftliche Druck: Man müsse heute vorsichtiger sein, wo man sich blicken lässt, sagte ihm der Betriebsratsvorsitzende – und verknüpfte damit eine moralische Erwartung an die private Lebensführung seiner Kolleginnen und Kollegen.

Die Geschichte von Kevin S. wirft grundlegende Fragen auf: Ist unsere Demokratie noch in der Lage, Meinungsvielfalt auszuhalten – auch dort, wo sie unbequem wird? Können wir unterscheiden zwischen Interesse und Identifikation? Zwischen Zuhören und Zustimmen? Die Antwort scheint zunehmend: nein.

Der Fall steht exemplarisch für eine sich ausbreitende Kultur der Kontaktschuld, in der es nicht mehr zählt, was jemand sagt oder wie er sich verhält, sondern wo er sich aufhält und mit wem er gesehen wird. Eine solche Kultur ist nicht nur ungerecht – sie ist gefährlich. Denn sie zerstört die Basis des demokratischen Austauschs: die Möglichkeit, sich unvoreingenommen ein Bild zu machen, verschiedene Perspektiven abzuwägen und daraus eigenständige Schlüsse zu ziehen.

Kevin S. kämpft nicht gegen „rechts“, wie er selbst sagt – er kämpft mit dem Rechtsstaat. Und das ist bemerkenswert. Trotz der massiven persönlichen und beruflichen Konsequenzen will er zurück an seinen Arbeitsplatz, zurück in die Betriebsratsarbeit. Er sieht sich nicht als Opfer, sondern als Teil einer demokratischen Gesellschaft, die mit ihm ringen muss – und in der er Verantwortung übernehmen möchte.

Was ihm widerfahren ist, ist letztlich eine Mahnung an uns alle. Politische Mündigkeit verlangt Offenheit, nicht Verdacht. Engagement darf nicht mit Extremismus gleichgesetzt werden. Und wer sich aufmacht, frei zu denken, muss sicher sein dürfen, dass ihn der demokratische Rechtsstaat schützt – nicht, dass er ihn fallen lässt.

Kevin S.s Erfahrung ist unbequem, weil sie ein Spiegel ist. Sie zeigt uns, was passiert, wenn wir beginnen, einander nicht mehr zuzuhören – und stattdessen urteilen, bevor wir verstehen. Doch vielleicht ist genau das die Lehre: Dass wir reden müssen. Nicht übereinander, sondern miteinander. Auch – und gerade – wenn es schwerfällt.

Am 10.06.2025 fand der Arbeitsgerichtsprozess vor dem Arbeitsgericht Gießen statt. Die Kündigung wurde aufgehoben.

Dr. Emmanuel Kaufmann, Anwalt von Kevin S., zum Thema "Erosion der Rechtstaatlichkeit"

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