Beruhigung statt Reserve – Deutschland geht mit dünner Gashaube in den Winter

Während es draußen langsam kälter wird, wird es in den Gasspeichern eng. Knapp über 70 % Speicherfüllstand – das meldet die Bundesnetzagentur derzeit. Klingt technisch. Ist aber politisch explosiv. Denn normalerweise liegen die Füllstände zu dieser Jahreszeit bei über 90 %. Darüber berichteten wir gestern. Und deshalb wollten wir es genauer wissen – und haben bei der Bundesnetzagentur nachgefragt. Die Antworten zeichnen ein Bild, das deutlich weniger beruhigend ist, als es auf den ersten Blick klingt.
Warum sind die Speicher so leer?
„Der Stand der Speicherbefüllung ist von den marktlichen Gegebenheiten und dem Versorgungsportfolio der Marktteilnehmer abhängig.“
Im Klartext bedeutet das Zitat der Bundesnetzagentur: Der Staat füllt keine Speicher. Händler und Versorger entscheiden selbst, wann, wie und wie viel sie einlagern. Offenbar haben sie dieses Jahr weniger eingelagert – trotz gesunkener Nachfrage. Begründung: veränderte Importströme und „Absicherungsstrategien“. Heißt übersetzt: Man verlässt sich darauf, dass im Winter genug Gas importiert werden kann, anstatt große Vorräte vorzuhalten. Früher war der Speicher das Rückgrat der Versorgung – heute ist er nur noch ein Stützrad.
Unsere Frage, warum trotz geringeren Verbrauchs keine höhere Befüllung erreicht wurde, blieb unbeantwortet – stattdessen ein Verweis auf die Gasspeicherfüllstandsverordnung:
„Die Zielvorgabe über alle deutschen Speicher von 70 % ist nach aktuellem Stand erfüllt.“
Das ist formal korrekt – aber historisch deutlich unter dem gewohnten Niveau. Früher war 70 % der Zwischenstand im Spätsommer, nicht der Zielwert vor dem Winter. Der Staat hat die Mindestanforderung gesenkt – und die Bundesnetzagentur erklärt deren Erfüllung zur Sicherheit.
Die Behörde betont:
„Die Gasversorgung in Deutschland ist stabil. Die Versorgungssicherheit ist gewährleistet.“
Aber: Diese Aussage bezieht sich auf die heutige Lage bei mildem Wetter – nicht auf den möglichen Ernstfall bei längeren Kälteperioden. Ein paar Wochen Frost, Dunkelflauten bei Wind und Sonne, steigender Stromimport – und der Speicher kann sehr schnell leer sein.
Dass die Bundesnetzagentur das Risiko nicht offen beziffert, ist kein Zufall: Es gibt keinen echten Puffer, der eine Kältewelle abfedern würde. Das System hängt am Tropf der internationalen Gasflüsse – nicht mehr an heimischen Reserven.
Strommarkt als zusätzlicher Risikofaktor
Deutschland importiert schon heute erhebliche Strommengen, weil Wind und Sonne schwächeln. Das hat direkte Folgen für den Gasmarkt. Mehr Stromimporte bedeuten mehr Gasverstromung in Nachbarländern, weniger Flexibilität im Netz und im Extremfall auch mehr Gasverbrauch in Deutschland selbst, wenn die Importe nicht reichen.
Die Bundesnetzagentur verweist auf die europäische Verbundlösung – doch verschweigt, was passiert, wenn mehrere Länder gleichzeitig unter Dunkelflauten leiden. Dann gibt es nämlich kein „billiges Ausland“, das einspringen kann.
Die Behörde verweist auf neue Importwege: Norwegen, Frankreich, Belgien, LNG-Terminals. Das ist richtig – aber es bedeutet mehr Abhängigkeit von Importen, weniger Speicherpuffer und mehr Marktvolatilität. Oder kürzer: Die Struktur ist flexibler geworden – aber anfälliger für Schocks.
Offizielle Einschätzung: Versorgungslage „stabil“, Gefahr einer angespannten Versorgungslage aktuell „gering“.
Was wurde nicht gesagt...
Keine Aussage über Reserve-Resilienz: Die Behörde sagt nicht, ob 70 % auch bei einem kalten, langen Winter ausreichen würden. „Ziel erfüllt“ bedeutet nur: gesetzliche Mindestmarke erreicht. Aber das ist kein Garant für Versorgungssicherheit im Krisenfall. Die kritische Pufferzone zwischen „formal ausreichend“ und „praktisch kritisch“ bleibt offen.
Keine konkrete Einschätzung zu Dunkelflauten: Es wird zwar betont, dass der Strommarkt europäisch funktioniert — aber: Was, wenn Nachbarländer gleichzeitig schwache Wind- und Solarproduktion haben? Was, wenn die Exportkapazitäten begrenzt sind? Was, wenn Strompreise im Verbund explodieren? Das wird komplett ausgeblendet.
Keine Bewertung von Industrie- und Verbrauchsrisiken: Es fehlt eine Einordnung, was bei steigender Nachfrage (Kälte + Strommangel) passiert. Das ist jedoch genau der Knackpunkt, an dem Mangellagen entstehen. Die Argumentation lautet: „Der Markt wird’s schon richten“ (mehr Import, europäischer Stromverbund). Was nicht gesagt wird: Diese Strategie funktioniert nur bei Normalbedingungen, nicht bei gleichzeitigen Schocks. Die Gasinfrastruktur ist begrenzt – sowohl technisch (Importleitungen, LNG-Terminals) als auch preislich.
Fazit
70 % Speicherfüllstand im Oktober sind kein Grund zur Beruhigung – sondern ein Alarmsignal. Deutschland hat kein Versorgungsproblem, solange das Wetter mild bleibt, die Nachbarn liefern und die Märkte funktionieren. Aber wehe, es kommt ein echter Winter.
Dann könnte sich zeigen: Nicht nur die Speicher sind leer. Sondern auch die politischen Versprechungen zur Versorgungssicherheit.